Antigone

von Sophokles
Regie: Christos Nicopoulos
Mit: Sabiullah Anwar, Waldemar Hooge, Andreas Strigl

Foto: Jürgen Elskamp

Was zählt mehr: das verkündete Gesetz des Staates oder das ungeschriebene Gesetz der Ehre? Dies ist eine uralte Frage und in dem „Mythos von Kreon und Antigone... nicht mehr und nicht weniger als die Geschichte einer zweifachen, jeweils tragisch endenden Auflehnung. Das in spannender Weise herausgearbeitet zu haben, ist eine Leistung von Regie und Ensemble.“ (Kölnische Rundschau)

Zur Übersetzung und Inszenierung der „Antigone“

Bei einer Theaterproduktion beschränkt sich die Rolle des Übersetzers nicht auf das Übertragen einer literarischen Vorlage, es geht vielmehr um eine dramaturgische „Partitur“ , die auf der Bühne zu realisieren ist. Das führt zwangsläufig dazu, dass der Übersetzer zum Stellvertreter des Bühnenautors wird und folglich die „hinter“ dem Text liegende Bedeutung und praktische Anwendbarkeit schauspielerischer Aktion freilegen und wieder neu erschaffen muss.

Die zusätzliche Funktion des Übersetzers empfinde ich beim inszenieren griechischer Tragödien als sehr aufschlussreich, nicht nur bezüglich der sprachlichen Form selbst, sondern weil das Übersetzen ein tieferes Verständnis für die inszenatorischen Möglichkeiten und die aufführungspraktischen Aspekte des Textes ermöglicht.

Meiner Meinung nach ist es sehr wichtig, die griechische Tragödie nicht literarisch isoliert, sondern in direktem Bezug zu ihrer Darstellung zu betrachten. Auf diese Weise kann man die grundlegenden menschlichen Gefühle, die zum Gegenstand werden, erforschen und ihre Bedeutsamkeit dem heutigen Publikum zugänglich machen. Beim Untersuchen der menschlichen Emotionen, die den verschiedenen Stücken zugrunde liegen, wurde mir der geradezu unendliche Spielraum für experimentelle Darstellung griechischer Tragödien bewusst. Möglichkeiten, die sich beim modernen Drama nicht so einfach ergeben, wohl, weil antike Tragödien nicht ausschließlich auf Charakterisierung zwischenmenschlicher Beziehungen beruhen. Sie behandeln menschliche Leidenschaften in ihrer ursprünglichsten Form.

Die Inszenierung unternimmt den Versuch der „Autopsie“ eines antiken Dramas. Antigone wird nicht als Vehikel einer politischen Idee oder eines romantischen Ideals verstanden, sondern im Sinne Sophokles als Denkmodell, in dem sich Ideen, Glaube und Tradition mischen. Die Figur Antigone wird nicht als individuelle Frau, sondern als Funktion innerhalb einer Struktur verstanden.
Diese Stellung ist in unserer Kultur nicht mehr präsent, und genau in diesem Abgrund liegt die Faszination von „Antigone“: ein menschliches Modell, das in unserer Gesellschaft nicht mehr auffindbar zu sein scheint.

(Christos Nicopoulos)





PRESSE

16.01.2023

Mit dem Pädagogik LK der Q1 in Theben - „Antigone“ Im Horizont Theater
Ein Bericht von Anny Papaphilippu

Eine Holzrampe, drei Metallelemente, von der Decke herabhängend an groben Stricken, drei Eisenstäbe und eine Schubkarre – man könnte meinen, wir wären auf einer Baustelle gelandet, doch dann geht das Licht aus und… wir sind im antiken Theben!

Und damit mitten in einer doch recht prekären Situation: Die beiden Söhne des unglücklichen Ödipus, Eteokles und Polyneikes, haben sich im Kampf um die Stadt gegenseitig umgebracht, doch während Eteokles ruhmreich bestattet wird, verweigert Kreon, der Herrscher über Theben, dem „Landesverräter“ Polyneikes ein würdiges Begräbnis - schlimmer noch: Es ist bei Todesstrafe verboten, Polyneikes zu bestatten - welch ein Verbot, denn nach göttlichem Gebot müsste eigentlich jeder eine würdige Bestattung erhalten. Viel Zündstoff also, vor allem für die Schwester des Eteokles, die tugendhafte Antigone, für die das Verbot des starrsinnigen Onkels nicht mit ihrem Gewissen zu vereinbaren ist und mit Gerechtigkeit erst recht nicht!

Und dafür hat Antigone gute Gründe: wie kann es sein, dass ein staatliches - also menschengemachtes - Verbot mächtiger sein sollte als der Willen der Götter und damit zugleich bindender als die moralische Entscheidung des Individuums? Denn das möchte Antigone sein - selbstbestimmtes, ethisch und moralisch autonom handelndes Subjekt, nicht willenlose Sklavin irdischer Gesetze.

Und dafür ist sie sogar bereit, zu sterben. Verzweifelt versucht ihre Schwester Ismene, Antigone zur Vernunft zu bringen. Doch vergebens…hier geht es nämlich um´s Eingemachte, um die zeitlose Frage, ob man unter bestimmten Umständen ethische Prinzipien über geltende Gesetze stellen sollte, ja müsste, wenn man sonst gegen sein Gewissen handeln würde?

Eine Frage, die uns auch mehr als 2000 Jahre nach der Uraufführung der Antigone beschäftigt, denn sie geht uns alle an. Wie steht es denn um unsere ethischen Prinzipien? Und würden wir diese im Ernstfall auch gegen staatlichen Widerstand verteidigen? Würden wir Gesetze und Konventionen brechen und die Konsequenzen dafür tragen, um uns selbst treu zu bleiben? Und dann sind ja moralisch denken und aktiv moralisch handeln auch immer noch zweierlei…. Fragen, die wir uns nicht nur im Rahmen des Pädagogikunterrichts stellen, sondern die aktuell und zeitlos sind, da sie auch die kritische Reflexion des eigenen Wertekanons beinhalten.

Und so sehen wir mit banger Sorge, wie sich die Situation in Theben zuspitzt: Antigone bestattet - ihrer moralischen Haltung folgend - den Bruder und muss dafür büßen. Kreon ist nicht umzustimmen: Nicht durch die Argumente des mit Antigone verlobten Sohnes, ja nicht einmal durch die düstere Prophezeiung des weisen Sehers Teiresias, der Kreons Bestattungsverbot explizit als Frevel bezeichnet und ihm ankündigt, er werde den Tod der Antigone mit einem weiteren Tode bezahlen.

Und so kommt, was kommen muss: Zu spät erkennt Kreon seine Fehlentscheidung, zu spät will er die inzwischen lebendig eingemauerte Antigone befreien - unvermeidbar die Katastrophe: Antigone und ihr Verlobter Haimon haben längst Selbstmord begangen; ebenso des Kreons Frau, verzweifelt über den Verlust des Sohnes. Am Ende sind - wie in der Tragödie üblich - alle tot und Kreon bleibt allein zurück, wahnsinnig vor Verzweiflung - und wir mit ihm, berührt von den Abgründen des Emotionssprektrums, dessen Zeugen wir wurden.

Was Christos Nicopoulos da mit einfachsten Mitteln auf die Bühne bringt, ist stark. Die Reduziertheit des Bühnenbilds wirkt im Kontext des thebanischen settings nahezu archaisch, die Form stützt den Inhalt: Es geht um die essentials, um Ethik, Moral und Werte – und die kommen ganz ohne Tam Tam oder special effects aus. Drei Schauspieler, die nach antiker Tradition auch die Frauenrollen spielen, - mehr braucht es nicht, um des Sophokleś Stück lebendig werden zu lassen und uns nach Theben zu beamen. Beeindruckend, wie das Stück so ganz ohne großes Bohei an die Radix geht, bewegend ist, erschreckend, verstörend und echt. Weniger ist mehr - der Fokus liegt auf dem wirklich Wichtigen: auf den Folgen menschlicher Verblendung und auf Antigone als Reflexionsfolie, die uns modellhaft daran erinnert, dass es Mut und Entschlossenheit kostet, um für seine Überzeugungen einzustehen – und in ihrem Fall – das Leben. Solche Modelle sind wichtig, richten sie doch wie in einem Brennglas einen kritischen Blick auch auf die eigene Haltung und regen Schülerinnen und Schüler zum Nachdenken darüber an, was für sie Leitfaden und Richtschnur sein kann, auch wenn es im Alltag zum Glück nicht immer so dramatisch wie in der Tragödie zugeht. Umso wichtiger erscheint es da, jeden Tag eine reflektierte Perspektive einzunehmen, sich zu bedeutenden Themen aktiv zu verhalten und Werte, wie Moral und Anstand, vom abstrakten Podest herunterzuholen und im Hier und Jetzt lebbar zu machen. Auch dafür kann Antigone uns Modell sein.

So sind unsere Schülerinnen und Schüler tief beeindruckt und begeistert von der Leistung der Schauspieler und dem Sog, den das Stück schon nach kurzer Zeit entfaltet. „Waren das jetzt wirklich schon 100 Minuten?“ fragen sie sich, da keine/r so recht glauben kann, wie schnell die Zeit verfliegt, wenn einen die Handlung so mitreißt. Und es fällt uns allen schon ein wenig schwer, wieder in die Realität zurückzufinden, als wir den Heimweg antreten…

Und die Moral von der Geschicht´? Wieder einmal durften wir im HORIZONT Theater ein eindringliches Stück Schauspielkunst erleben, für das wir dankbar sind, da es wahrhaftig nachwirkt, weil es menschliche Leidenschaften - also das, was uns umtreibt - behandelt. Und nicht zuletzt auch daran erinnert, dass es neben Netflix Serien und digitalen devices doch auch noch die Begegnung mit echten Menschen gibt - auf einer Holzrampe vor den Toren Thebens.

Wir danken daher dem Team des Horizont Theaters für eine tolle und zeitlose Inszenierung und dem Intendanten Christos Nicopoulos für seine interessante und ergiebige Einführung vor der Vorstellung!

Zudem danken wir erneut dem Förderverein der Heinrich – Böll - Gesamtschule für die wiederholte freundliche Unterstützung – schön, dass Ihr uns das ermöglicht; es ist etwas, das bleibt!



Kölnische Rundschau

Revolte gegen höhere Gewalt
Das Horizont- Theater spielt „Antigone“ von Sophokles in neuer Übersetzung
Von Reiner Thies

Gutes Theater gelingt in der freien Szene immer dann, wenn aus Nöten Tugenden gemacht werden, wenn die vergleichsweise beschränkten Voraussetzungen zu intimen Spielsituationen genutzt werden. In seiner Inszenierung der „Antigone“ von Sophokles im Horizont- Theater begnügt Christos Nicopoulos sich mit drei Darstellern und greift damit auf die antike Spielpraxis zurück.

Während jedoch im alten Griechenland unterschiedliche Masken dazu dienten, die Vielzahl der darzustellenden Figuren zu charakterisieren, benutzt Nicopoulos weiße Schals, die mal als Toga, mal als Kopftuch und mal als Gürtel Verwendung finden. In dieser Weise ausgestattet, müssen namentlich Sabiullah Anwar und Andreas Strigl große Wandlungsfähigkeit beweisen. Anwar ist als jugendliche Antigone und greiser Teiresias hinsichtlich seines großen mimisch- gestischen Ausdrucksvermögens überragend; sprachlich hingegen scheint der gebürtige Afghane etwas überfordert zu sein. Dabei erleichtert die Neuübersetzung, die Nicopoulos zusammen mit Astrid Rempel besorgte, eine alltagssprachliche Gestaltung: „Du hast wohl verbalen Durchfall?“, heißt es an einer Stelle.
Was den sprachlichen Ausdruck betrifft, ist der deutsche Muttersprachler Strigl (als zarte Ismene und forscher Haimon) seinen Mitspielern überlegen, sogar seinen Tiroler Heimatdialekt weiß er zur Figurengestaltung zu gebrauchen. Gut, dass Waldemar Hooge in beiderlei Hinsicht ein mittlerer Charakter mit solidem Können ist, denn ihm obliegt als Kreon wenn nicht die Titel-, so doch die Hauptrolle.

Im Wandel des Herrschers vom rechthaberischen Tyrannen zum gottesgesetzfürchtigen Büßer wird der besondere Akzent dieser Inszenierung (die im Programmheft etwas missverständlich als absichtlich „unaktuell“ bezeichnet wird) deutlich. Rebellion gegen höhere Gewalt bleibt ein modernes Thema; Antigones rein religiöse Motivation ist heute allerdings so lebensfern, dass das 'Wofür' nicht mehr im Zentrum stehen kann. Der Mythos von Kreon und Antigone ist nicht mehr und nicht weniger als die Geschichte einer zweifachen, jeweils tragisch endenden Auflehnung. Das in spannender Weise herausgearbeitet zu haben, ist die Leistung von Regie und Ensemble.